NWZ 25.4.00

AUSSTELLUNG / Zeichnung, Malerei und Fotografie

Die Schönheit des Asphalts
"Linien" von Hildegard Esslinger in der Göppinger Galerie Kränzl

"Gespräche", "Linien" und „Asphaltzeichnungen" heißen die Titel von Hildegard Esslingers Arbeiten.  Nicht mehr und nicht weniger.  Damit charakterisiert die Künstlerin bereits ihre drei unterschiedlichen Werkgruppen, die doch in sich zusammenhängen.  Denn Ausgangs- und Endpunkt jeder Überlegung ist die Linie.

MARLIES BIRKLE-HOSS

Hildegard Esslinger, 1939 in Danzig geboren, gehört zu denjenigen, meist Frauen, die auf Grund diverser biographischer Brüche und Umwege erst relativ spät im Leben ihre künstlerische Berufung verwirklichen konnten. Im Alter von 41 Jahren hat sie bei Prof.  Sonderborg an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste ein Studium der Malerei begonnen, danach wurde sie vom Land und der Kunststiftung BadenWürttemberg gefördert.  Zahlreiche Ausstellungen folgten.
Linien: Ein Thema und drei Variationen.  Im vorderen Raum der Galerie Kränzl zeigt Hildegard Esslinger Leinwandbilder unterschiedlichsten Formats.  Hier kommuniziert die Linie mit dem Farbfeld.  "Gespräche" hat die Künstlerin denn auch diese Begegnungen genannt.  Esslingers Linien mit dem Öl- oder Graphitstift graben sich in die meist reliefartig aufgetragenen Ölfarben ein.  Auch in den monochromen Farbfeldern selbst sind wiederum Strukturen, Muster und Linien zu erkennen.
Wie reagiert die (gebogene) Linie, der Kreis, die Spirale in einem Farbfeld und wie außerhalb?  Einfache Formen werden erweitert, vertieft, ergänzt, begrenzt, gespiegelt, verstärkt und umgewandelt.  Nach demselben Prinzip verfährt Hildegard Esslinger bei ihren Asphaltzeichnungen.  Hier jedoch reagiert sie auf Vorgegebenes, etwa auf das Zusammentreffen zweier dunkler Teerstellen, die sie beispielsweise mit ihrer Kreide einkreist, oder sie erweitert etwa einen Zweig zum Kreis.  Und da, wo das bloße Auge einen bloßen Kreidekreis auf Teer wahrnimmt, entfaltet der Asphalt auf der Fotografie seine ganze lebhafte Struktur und Farbigkeit.
Noch weit spannender aber sind Hildegard Esslingers "Linien". Hier geht es um das "reine" Zeichnen.  Dieselben Themen wie zuvor, nämlich Annäherung, Berührung, Entfernung und Oberlagerung, hier durch das Übereinanderlegen mehrerer Blätter, sind weit abstrakter umgesetzt.  Die streifigen Linienverbände mit schwarzen Knotenpunkten, mäandernd über durchsichtiges Chinapapier, entziehen sich jeder Bedeutungszuweisung.  Es sind Linienströme, zwingend klar im Ausdruck und offen für Interpretationen.  Sie sind aus einem Impuls aus der Körpermitte heraus entstanden und gleichzeitig nahe beim Denken und der Konzeption anzusiedeln, wie schon das "reine" Zeichnen in der Renaissance.