NWZ 17.3.2001

AUSSTELLUNG / Der Stuttgarter Kunstprofessor Dieter Groß zeigt in der Göppinger  Galerie Kränzl sein "tägliches Panoptikum"

Selbstportraits als intime Dokumente des eigenen Befindens

Im Schnitt dauert es zwanzig Minuten, das Porträt, das der Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, Dieter Groß seit mehr als 16 Jahren tagtäglich von seinem eige-nen Konterfei fertigt.  Die Ga-lerie Kränzl zeigt davon eine beeindruckende Sammlung.

MARLIES BIRKLE-HOSS
 

Es hat etwas Faszinierendes, in ei-nem Raum zu stehen, der von oben bis unten und von links nach rechts (so, wie gelesen wird) mit Selbstporträts bestückt ist. Zumal diese Porträts ohne Rahmen und Glas jeweils nur mit zwei Stecknadeln befestigt sind und so - wenn auch absichtslos - nach hinten kippende Wände suggerieren.
Dieser Porträt-Raum in der Galerie Kränzl ist Ergebnis eines tagtäglich praktizierten Rituals, das den Blick in den Spiegel zum Ausgangspunkt macht.  Ein solcher Blick kann zunächst alles Mögliche sein: narzisstische Selbstbespiegelung, welche die Sicht auf die Welt verstellt, er kann Weltschmerz oder Selbstekel auslösen.  Aber Dieter Groß hat andere Absichten, die sich auch nicht mit den grotesken Überzeichnungen etwa eines Horst Janssen decken.  Selbst wenn man es zunächst meinen könnte.  Schließlich zeigen die meisten seiner Porträts einen zerknitterten, einen grübelnden oder kritischen und meist konzentriert nach unten blickenden Zeitgenossen.  Kein Wunder, dass mancher Vernissage-Gast den Künstler in Natura nicht wiedererkannte, hatte er doch allen Augenschein nach herzlich wenig mit dem grantigen Skeptiker seiner Zeichnungen zu tun.
Der 1937 in Stuttgart geborene Dieter Groß zeichnet zwar gerne mit scharfer satirischer Feder (bzw. hauptsächlich mit dem Bleistift), bleibt dabei aber humorvoll und rutscht nie ins Sarkastische ab, was auch in seinen anderen Zeichnungen samt den Schattenbildern im hinteren Raum zu sehen ist.  Hier und da liegt der Witz im haargenauen Detail und im klaren Strich.
In den Selbstporträts dagegen wird gestrichelt.  Der Blick geht nach innen, bringt den Moment der Reflexion zum, Ausdruck, ist eine Art Meditation, welche die Befindlichkeit des Selbst klärt und somit die Funktion eines Korrektivs einnimmt.  Groß erfindet weniger, als dass er mit Vorgefundenem arbeitet.  Und auch hier ist die Zeichnung als freieste und zugleich genaueste Form innerhalb der Bildenden Kunst verwandt mit dem Schreiben, was die Intimität des Selbst-Ausdrucks anbetrifft.  Die schonungslose Ehrlichkeit und die überspitzte Übersetzung des eigenen Befindens macht die Selbstporträts zu intimen Dokumenten.  Genau 640 Mal können wir sie an den vier Wänden bewundem, diese Bildnisse, die jeweils zu Tagebeginn oder bei Tagesende entstehen.  Sie zeigen nur einen Ausschnitt von 5552 Selbstbildnissen, mit denen Dieter Groß seit dem 27. Dezember 1985 begonnen hat und die er zusätzlich in zwei Büchern vorstellt. Der Reiz dieser Selbstporträts liegt gerade im Ineinandergehen von ständiger Wiederholung und Variation.

© Galerie Kraenzl